Heute Abend haben wir das große Glück, dass wir eine Arbeit von Marie S Punkt Ueltzen - das S bleibt ein Geheimnis, wie so vieles in ihrem Werk - eröffnen können ...
Ich bin heute etwas befangen. Die Künstlerin Marie S. Ueltzen ist wie ich unter den tiefhängenden, nebelverhangenen Wolkengebilden der norddeutschen Tiefebene groß geworden, und das ist durchaus ein zentrales Element in ihrem Werk. Das heißt, die melancholische Grundtönung - kurzum, diese tiefverhangenen, nebelverhangenen Wolkenhimmel, unter denen wir gemeinsam groß geworden sind, haben uns eine ähnlich melancholische Ader verpasst, die durch dieses Werk geht wie ein roter Faden, den ich heute Abend eigentlich mithaben sollte, aber ich habe ihn nicht mit. Marie ist deshalb großartig, weil sie eine vollkommen neue Technik in diese Areale des Norddeutschen gebracht hat.
Sie ist eine vielseitige Künstlerin, die in den Tagen, als diese Stadt (Bremen) noch experimentell unterwegs war, als Schauspielerin und als Experimentalkünstlerin unterwegs war, in den absonderlichsten Veranstaltungen, und die dann über den Weg der Malerei schließlich zu dem gefunden hat, was sie heute auf das Höchste auszeichnet als Künstlerin.
Es gibt einen großen Satz von René Char: „Über richtig große Kunst kann man überhaupt keine richtigen Worte finden“, und dennoch quasseln Kuratoren wie ich uns den Mund fusselig, wenn es um diese große Kunst geht. Und heute Abend haben wir wieder so einen Fall, dass wir quasseln und quasseln und mit der Sprache nicht einholen können, was wir dann sehen werden, wenn das Werk endlich enthüllt worden ist. Dennoch, und das ist schon die Verzweiflung von René Char gewesen, bemühen wir uns, Worte zu finden, um das zu umreißen, was wir gleich sehen werden.
Marie hat heute für diesen Ort, das Litfass, ein Bild ausgewählt, welches auf das Wunderbarste genau das auf den Punkt bringt, um was es in ihrem gesamten Werk geht, worum alles kreist, was sie macht. Sie ist eine Künstlerin, die im Kloster Wienhausen eine uralte Technik, ich glaube, aus dem 13. Jahrhundert, erlernt hat, und die nicht zu verwechseln ist mit der von Rosemarie Trockel, der weltberühmten, schon weltberühmten Künstlerin - im Gegensatz zu Marie, sie ist noch nicht weltberühmt – aber das wird kommen.
Rosemarie Trockel ist berühmt geworden über ihre sogenannten Strickbilder. Sie hat gesagt: „Ich bin eine Frau und das Feminine muss unbedingt in der Kunst eingeführt sein, und ich nehme eine vermeintlich feminine Technik, nämlich das Stricken“ - man beachte das R in diesem Wort – das Stricken – und verband dieses Stricken mit Motiven, die gar nicht so feminin waren, hat aber versucht, Korrelationen herzustellen zwischen den Konditionen des Weiblichseins, des Frauseins in dieser Welt und mit dieser eigenartigen Technik, die wir eben mit der Frau verbinden. Ich kann da nicht so mit, weil ich im Alter von sieben in der Schule schon stricken lernen musste, wenngleich ich das gottlob verlernt habe ...
Marie nun hat im Kloster Wienhausen etwas gelernt, was man Sticken nennt. Und wenn ich von den Nebeln sprach, die über unseren Köpfen hingen, bis wir so ungefähr achtzehn waren, dann ist ein Titel einer Serie von Bildern, die sie hergestellt hat, geradezu paradigmatisch: der Titel war „Erstickungen“. Erstickungen. Ich hoffe, das wird in Bremen irgendwie verstanden, das Wort Erstickungen. Und sie hat diese Welt der Erstickungen quasi erstickt, mit Bildern, die sie dann immer wieder verbunden hat mit Malerei.
Was wir hier heute sehen werden ist ein Bild, das zum einen Malerei ist und zum anderen gestickt ist. Das Bild heißt „122 Blüten und 1 Hamster“ und dieser Titel weist in die skurrile, surreale Welt, die Marie immer wieder zu entfalten in der Lage ist. Das heißt, sie ist eine Frau, die ganz im Alltäglichen wohnt, das hat auch damit zu tun, dass sie alles lebt, was das Alltägliche in dieser Welt ausmacht: Kinder haben, einen Mann haben und das Leben in dieser Welt bestreiten, zumal wenn man das in Bremen bestreiten muss. Und sie hat all diese kleinen Momente, in denen wir in der schönen Fassade eines vermeintlich intakten Lebens solche Momente erspüren, wo plötzlich alles aufbricht, herausgespürt. Gregor Schneider arbeitet auf diesem Feld, Thomas Demand arbeitet auf diesem Feld und Marie S. Ueltzen arbeitet auch auf diesem Feld. Sie spürt diese Momente heraus, in denen dass, was wir für ein vermeintlich intaktes Leben halten, auf einmal aufbricht – aufgrund einer ganz kleinen minutiösen Erscheinung. Sei es der Satz eines Menschen, den wir auf das Unendlichste lieben, der auf einmal einen Satz sagt, bei dem man erstirbt. Und eigentlich für den anderen, der diesen Satz sagt, im Boden versinken möchte, und dann doch selber im Boden versinkt, weil man diesen Satz gar nicht erträgt. All diese kleinen Momente, in denen sich das Leben wendet, und das Leben auf einmal einen Abgrund spürbar werden lässt; diese Momente fasst Marie S. Ueltzen in Bilder, die auf die zunächst erst einmal wunderbar erstickt erscheinen.
122 Blüten werden wir, wenn das Werk gleich enthüllt wird, erleben, die die Balance aufnehmen zu einem Moment, der ein tragischer Moment ist. Wir sehen einen herrlichen Baum, der uns erinnert an japanische Bilder von herrlichen Kirschblüten.122 fein gestickte Blüten, die Marie in ihrem alltäglichen Hamster-Dasein erstickt und erstickt und erstickt, sind auf diesem Bild platziert.
Vor einem wunderbaren himmelblauen Hintergrund sehen wir einen Baum, auf dem diese Blüten prangen, und dann sehen wir eben – wenn wir nicht vollkommen erblindet sind und den Blick mal für einen Moment von unseren i-phones wegwenden – sehen wir einen Hamster. Der Hamster ist sozusagen das Inbild dessen, das wir alltäglich bestreiten; der Hamster ist das Inbild dessen, was wir täglich eigentlich alle erleben. Wir sind in unseren jeweils eigenen Hamsterkäfigen und laufen in diesen Hamsterkäfigen mit der großen Sehnsucht, sie irgendwann verlassen zu können.
Aber einer dieser Hamster hat aufgegeben. Aufgegeben und sich diesem Baum ergeben mit Hilfe eines Stricks. Der Hamster hat sich erhängt. Dieser kleine Hamster ist in diesem Bild als erhängter Hamster zu sehen.
Als jemand, der unter diesen tief hängenden nordischen Himmeln aufgewachsen ist, doch ab und zu auch mal an der Nordseeküste ist, habe dort mal eine berührende Geschichte gehört, die Geschichte eines Huhns, das sich von einer Hühnerleiter hinuntergestürzt hat, weil ein Hahn verendet war, den es sehr geliebt hat.
Seit diesem Tag glaube ich zumindest an den möglichen Selbstmord der Tiere. Obwohl man ihnen das Bewusstsein abspricht, das ja komischerweise die Grundvoraussetzung ist für das, was wir Selbstmord nennen.
Ich habe heute gegoogelt, denn ich google immer, bevor ich hierher komme, weil ich weiß, ich bin hier in so einer Google-Familie und muss mich auf den neusten Stand bringen. Ich habe also gegoogelt, wie es sich mit dem Selbstmord der Tiere verhält. Und ich habe hunderttausende Einträge gefunden: Hunde, die sich vor LKWs stürzen, tränenübersäte Frauen, die das nicht ertragen, dass der Hund das tun konnte.
Ich habe eine entscheidende Eintragung gefunden über ein Tier, das ich bis dahin noch nicht kannte: Es war der Depressivus morbidus schluchz, der sich normalerweise in den Sentimental-Sümpfen ernährt von Trauerklößen. Und diese spezielle Spezies, die ich für die einzig virulente halte, die wir heute Abend hier ins Spiel bringen können, weil es um einen erhängten Hamster geht, ist leider ausgestorben. Über Selbstmord.
Was wir daraus lernen können, ist: da wir den Tieren das Bewusstsein eigentlich absprechen, Selbstmord zu verüben, dennoch anscheinend in einer Welt leben, in der es möglich ist, dass Tiere ohne Bewusstsein den Selbstmord suchen, finden wir in die Bildwelt von Marie sofort hinein. Das heißt, wir sehen die schöne Welt, in der wir täglich hier im Litfass uns treffen - auf das Wunderbarste bedient von einem der besten Bar-Teams, das ich in meinem Leben, und ich war bei Gott auch noch mal in anderen Städten, jemals erlebt habe - und dennoch wird diese wunderbare Fassade immer wieder durchbrochen durch das, was uns im Alltäglichen erscheint. Ein schreckliches Gespräch am Nebentisch, die berühmte schreckliche Vokabel, die wir von unseren Liebsten an den Kopf geworfen bekommen. Und diese Momente des Schrecklichen, die Abgründe, die sich auftun, wenn wir die Augen wirklich aufsperren, und Marie gottlob ist es gegeben, ihre Augen nicht schließen zu können.
Das macht das tiefe Schicksal ihrer Kunst aus, und das macht aus, dass der Hamster sich auf diesem Bild erhängt hat. Dennoch ein Bild, das gleichzeitig an die Schönheit des Lebens appelliert.122 Blüten wollen aufgewogen sein gegen einen erhängten toten Hamster. Und das ist das Schöne an der Bildenden Kunst: „Ihr werdet die Waage sein.“